Zu Chiusaforte an der Fella, an dessen altem Mauerwerk der Reisende heutzutage auf der Pontebba-Bahn vorüberfährt, hielt sich in einem der letzten Sommer, wie seit einiger Zeit gewöhnlich, eine Gesellschaft vornehmer Herren und Damen aus den Städten der venezianischen Tiefebene auf. Die Luft der Berge und die Kühlung, welche der Strom bringt, war ihnen, welche aus den heißen Tagen und schwülen Nächten heraufkamen, eine Erholung.
Es kommt vor, dass auch Deutsche dorthin in die Sommerfrische gehen. Alles, was zur Gesellschaft gehört, hält sich jedoch im Hause Pesamosca auf, dessen Besitzer einen Pavillon erbauen ließen, von welchem aus man die schönsten Stellen des wilden Thales überschaut.
Unter den Gästen befand sich damals eine Frau von hervorragender Schönheit. Es war eine Gräfin aus Venedig. Noch interessanter jedoch, als den Männern diese Frau, deuchte, wie es schien, ihr jugendlicher Gemahl den anwesenden Damen. Es war ein sehr beweglicher, geistreicher Mann mit edlem Gesichtsausdruck. Doch mochte es einem Beobachter leicht beifallen, dass die Wirkung, die er augenscheinlich auf die Stimmung der Damen hervorbrachte, noch anderen Eindrücken ihren Ursprung verdanke, als den angegebenen. Der Graf wurde wie ein Mensch behandelt, um welchen sich ein Geheimnis webt.
Eine der auffälligsten Seltsamkeiten des Grafen war die, dass er fast niemals in Gesellschaft seiner Gemahlin zu erblicken war. Während diese, eine Bergsteigerin aus Leidenschaft, sich irgendwo oben in den grauen Klüften befand, um einen Strauß von Edelweiß herabzubringen, den sie unter die Gäste vertheilte, schlenderte er nachdenklich an den Ufern des Bergstromes umher. Man begegnete ihm in den grasbewachsenen Gassen des Dorfes, über dessen ödes Mauerwerk die Aeste der Feigenbäume vorragen. Man sah ihn weit draußen auf der verlassenen Straße, auf der kein Geräusch vernommen wird, als das Summen entlegener Wasserfälle in den Falten der Berge.
Es gab Solche, welche die von Leben strotzende und in Gesellschaft unermüdet heitere Gräfin einsam weinen gesehen hatten.
So schien dem Ankömmling dies Alles ein Räthsel. Den Gästen jedoch war es ein solches keineswegs. Man kennt in den Städten Italiens das Innere der Häuser vornehmer Familien. Es giebt nur öffentliche Geheimnisse. Die Wände scheinen durchsichtiger als in den Stuben des Nordens.
So konnte es nicht fehlen, daß den Wenigen, die nicht wussten, welche Bewandtniß es mit dem Paare hatte, auf ihre neugierigen Anfragen bald Antwort wurde.
Eines Tages ging ein deutscher Gast mit einem italienischen Maler, der dort Landschafts -Studien machte, zu dem Wasserfall hinauf, der sich tief in das graue Gestein eingesägt hat und in drei Absätzen herabfällt. Der Maler setzte sich auf einen Stein und der Deutsche blieb eine Meile neben ihm stehen.
Es war ein stiller Ort. Nichts regte sich. Nur ein schwarzer Schmetterling umkreiste den Fels. Der Nordwind bewegte einige blutrothe Nelken ein wenig. Während der Maler den Kopf bald aufwärts zum Wasserfall hob, bald ihn gegen seine Leinwand neigte, hielt er im Gespräch nicht inne.
„Unsere schöne Gräfin, die jetzt über Reichthümer gebietet, war vor kurzer Zeit noch die hoffnungsvolle Erbin eines Palastes, den kaum ein Facchin zu bewohnen den Muth gehabt haben würde. Was half's ihr, daß sie eine geborene Marchesa ist. Die einzige Hoffnung der Mutter war eine reiche Heirath. Ist aber da ein bildhübscher Bursch gewesen — auch ein Adeliger, und was das Vermögen anbelangt, so wäre es keine Missheirat geworden. Sie hätten dem Pfarrer die Trauungskosten schuldig bleiben müssen. Das hätte der Mutter den Todesstoß versetzt. Sie ließ den schönen Raffaele kommen. Was sie ihm sagte, das weiß man nicht. Aber eines Tages war er verschwunden und unsere kleine Marchesa erhielt einen Brief von ihm, dass er sie vergessen wolle. Des Weinens war kein Ende."
In diesem Augenblick vernahm der Deutsche ein knirschendes Geräusch auf dem feinen Kalkschotter, der den Weg zum Wasserfall bedeckt. Er wandte sich um. Der Maler folgte seinen Blicken.
Was sie sahen, war Folgendes: Der Graf und seine Gemahlin gingen Arm in Arm. Als sie zum breiten Stumpf einer Fichte gelangten, um welchen ringsherum Alpenrosen blühten, setzten sie sich auf die rundliche Fläche. Sie hoben die Arme und umschlangen sich.
Ein maßloses Erstaunen drückte sich im Gesichte des Malers aus. Keiner sprach ein Wort.
Nach einer Weile setzte das gräfliche Paar seinen Spaziergang fort.
„Was ich erzählen wollte," sagte der Maler, „passt so wenig zu dem eben Gesehenen, dass ich nicht mehr weiß, ob ich die Wahrheit spreche."
Gleichwohl fuhr er fort: „Die Marchesa ist eine gute Tochter. Nachdem sie ihre Thränen getrocknet hatte, sah sie ein, dass sie keine heiligere Pflicht habe, als die Mutter der Armuth zu entreißen und den Glanz des väterlichen Namens wieder herzustellen. Es war eben die Jahreszeit der Lido-Bäder. Es erschien ein dicker, glatzköpfiger Millionär, der sich vom Kaffeehandel zurückgezogen hatte. Der bot sich an, das Wappen zu vergolden und aus der ersten Schönheit Venedigs sein Ehegespons zu machen. Ich glaube, die junge Marchesa in ihrer Noth hätte eingewilligt, wenn sich nicht ein Wunder zugetragen hätte."
„Ein Wunder?"
„Gewiss, denn wie oft kommt es vor, dass mitten in solcher Bedrängniss der Retter aus den Wolken herabsteigt? Und ein solcher erschien. Der Graf, der in Paris wohnte, trat urplötzlich in Venedig auf. Er ist ein weitläufiger Verwandter der Familie. Ihr erschien er als rettender Bote. Sie, nämlich die junge Marchesa, zeigte sich über die ihr bevorstehende Hochzeit verzweifelt."
„Ich errathe den Rest," unterbrach den Maler der Begleiter. „Der Graf verliebte sich in sie und hat sie alsbald geheirathet." „So weit sind wir noch nicht," entgegnete der Maler lächelnd. „Der Graf ist allerdings ein Original, ein Mensch, der das Schiefe der Welt gerade machen will, ein Don Quixote, der auf Erlösung ausgeht. Er ist ein Paladin, der zuerst an das Wohl Anderer denkt. Indem er den Zusammenhang durchschaute, bot er ihr in zartester Form das Geschenk eines Vermögens an. Trotz der Armuth wurden auf der Fahrt zum Lido persische Teppiche von der Gondel durch das Wasser nachgeschleift. Das Anerbieten wurde zurückgewiesen. Gleichwohl mochte der Graf das schöne Weib nicht in die Hände des Kaffeehändlers fallen lassen. Das einfachste Mittel, sie zu heirathen, fiel ihm bei feiner Liebe zur Ungebundenheit nicht ein."
„Aber……… ," bemerkte der Fremde.
„Wir nähern uns dem Schluss. Tag und Nacht quälte den Graf das Gehirn, wie seine anmuthige Verwandte zu befreien sei. Er ließ die ganze Reihe seiner heirathsfähigen Freunde an sich vorüberziehen. Er fand keinen, den er vor zustellen vermocht hätte. Jedem fehlte irgend eine Eigenschaft: die Jugend, das Geld, die Lust. So vergingen Wochen. Eine gelegentliche Unterredung mit der Marchesa brachte ihm endlich die Erleuchtung. Er, ja er selbst musste sie heirathen, wenn sie gerettet sein sollte."
„Ich finde das Opfer nicht so grausam!" wandte der Gast ein.
„Wenn es damit allem gethan wäre! Aber es scheint, als ob in dieser Welt der Niedrigkeiten der Wettstreit des Edelmuthes nicht immer zum Guten führte. Die Marchesa war nicht eitel genug, um nicht bei dem Antrag des jungen, glänzenden, ungebundenen, mit der Aureole zahlloser Legenden umgebenen Grafen dessen wahren Beweggrund zu durchschauen. Sie ergriff die dargebotene Hand. Bevor sie sich jedoch durch ihre Zusage band, glaubte sie, die Hochherzigkeit des Grafen durch ein Geständniß entlohnen zu wollen. Was war das? Sie konnte den schönen und ungetreuen Raffaele nicht vergessen.
Merkwürdig, dass ihr Geständniß eine Wirkung auf den phantastischen Grafen ausübte, die sie kaum erwartete. Statt davon erschreckt zu werden, gerieth er in Entzücken. Es war ihm ja gar nicht um das Heirathen, um die Ehe als solche zu thun gewesen. Er hatte dem Joche bis dahin wider standen, er liebte die Freiheit. Diese Ehe wäre nur Mittel zum Zwecke gewesen, den bedrängten Verwandten zu helfen. Jetzt gab ihm die Marchesa die geliebte Freiheit zurück. Nun machte er einen Vorschlag, der ihm ähnlich sieht. Er wolle, so sagte er, das Heiligthum der Erinnerung nicht verletzen. Vor der Welt sollten sie als Eheleute gelten, sie seinen Namen führen, in Wirklichkeit aber ihr Nebeneinanderleben das von Bruder und Schwester sein."
„Wann war das?" fragte immer erstaunter der deutsche Gast. „Vor etwa einem Iahre. Es scheint aber, als habe der Graf sofort Schwierigkeiten gefunden, den Vertrag einzuhalten. Denn alsbald nach der Hochzeit ging er wieder nach Paris und ließ die ihm auf so seltsame Weise angetraute Schöne einsam zurück. Es war, als ob er den Reizen der Gattin entflöhe. Es ist bekannt geworden, dass er Liebe und Eifersucht zu ersticken trachtete."
Der Deutsche konnte, während der Maler diese Worte sprach, sein Lächeln nicht verbergen. Er dachte an den Auftritt, dessen Zeugen sie gewesen waren. Der Maler bemerkte es. „Nun," fuhr er fort, „die Lösung des Räthsels liegt vor uns. Das Ehepaar hat sich nachträglich ineinander verliebt. Der schöne Raffaele scheint in Zeit und Raum verschwommen zu sein und der Graf kein Bild gefunden zu haben, welches ihm die eigene, doch so unnahbare Gattin verdrängte. Vor vier Wochen kam die Gräfin, vor etwa vier Tagen der Graf hier an. Sie trafen sich auf Grund irgend einer, der Himmel weiß welcher, Vereinbarung. Da sehe man aber nur die Heuchler! Der Graf wohnt in diesem, die Gräfin in jenem Theil des Gasthofes. Kaum daß sie ein Wort vor Zeugen miteinander wechseln." Der Deutsche bemerkte: „Ich verstehe das nicht. Es ist mir nicht denkbar, dass unter unseren adeligen Familien sich dergleichen zutragen könne. Die sind viel zu wenig Romantiker für solche Hin- und Herzüge."
Der Maler entgegnete: „Sagen wir es kurz: zuerst war der Graf ein Don Quixote, der statt des Mambrius- Helmes einen Cylinder trug. Jetzt ist er nachträglich zum girrenden Lautenschläger geworden. Das Wunderbare bleibt, aus welchem Grunde sich das liebende Ehepaar vor der Welt noch immer im alten Lichte der Entfremdung zeigt. Das reime sich wer kann."
Nach dem Auftritt vor dem Wasserfall konnte das allerdings als ein Räthsel gelten.
Es gab aber eine Möglichkeit der Erklärung. Und diese erwies sich als die richtige.
Der Entschluß, die brüderliche Eigenschaft auf dem Altar Hymen's zu opfern, mochte allerdings in Beiden sich längst geregt haben, aber heute erst hatten sie sich gefunden. Unter Nelken und Alpenrosen, im Angesichte des hohen Glanzes, hatten ihre Blicke sich vereinigt.
Die Zeit verrann und der Wasserfall rauschte fort. Die Gäste stiegen ins Thal herab. Am Abend zündete der Mond den Bergstrom an, dass er weißglühend zwischen Schatten floss. Das Gespräch im Pavillon bewegte sich um den Grafen und die Gräfin, die heute gegen Abend abgereist waren.
Während des Tages war ein ganzer Wagen voll Blumen angekommen, Orangenblüthen, Rosen. Die Kalesche, in welcher die Beiden talabwärts fuhren, war von ihnen bedeckt. Die Fenster der Gemächer, in welchen das Paar bis dahin getrennt gelebt hatte, blieben finster. Doch brannten gewiss an anderem Orte die Fackeln des freudespendenden Gottes.
Seltsam — Jeder in der Gesellschaft ahnte den Zusammenhang. Doch Niemand berührte solche Wendung der Dinge.
Es lag eine wunderliche Stimmung über der Gesellschaft. Die Wirkungen der Elementargewalt sprachen eindringlicher als zu gewöhnlicher Zeit. Das Brausen des Wassers drang in den häufigen Pausen des Gespräches herein und das Leuchten des Mondes auf den Gipfeln über dem einfamen Thale lockte manch bewunderndes Wort hervor. Wunderliche Blicke wurden zwischen Männern und Frauen ausgetauscht — es war ein Abend, wie er selten auf der Pilgerfahrt des Lebens den Gang herkömmlicher Vorkommnisse unterbricht.
Heinrich Noë, Deutsches Alpenbuch, II Abt., II Band, 1888
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