Bald war ein leichter Einspänner aufgetrieben, und frisch und munter gieng es auf prächtiger Landstraße hinein nach Italien, nach dem anderthalb Stunden entfernten Chiusaforte, der zweiten Station der Alta-Italia-Bahn, wo ich den Rückzug abwarten wollte. Es gibt kaum etwas Romantischeres, ja geradezu Unheimlicheres, als diese Fahrt durch das Fellathal. Links und rechts von jäh zu schwindelnder Höhe aufsteigenden Felsenbergen eingeengt, tost die blaugrüne, ziemlich wasserreiche Fella in schäumenden Cascaden über Steinblöcke und Gerölle dahin, und ihrem Laufe folgeu in sicherer Höhe Straße und Bahn, beide Kunstwerke aus Stein, wie sie nur Italiener schaffen können. Die Bahnstrecke Pontebba-Chiusaforte ist ein technisches Wunder und reiht sich würdig den so berühmten Bahnen über den Semmering und über den Brenner an, doch während letztere weltberühmt sind, ist die Bahn durch das Fellathal fast unbekannt. Mit welch kolossalen Schwierigkeiten der Bau dieser Bahn zu kämpfen hatte, beweist die alleinige Thatsache, dass es hier kein festes, sicheres Terrain gibt und dass man ein solches erst schaffen musste, um den Schienenstrang zu legen. Die scheinbar ehernen Felsenberge sind verwittert uud morsch, und auf Schritt und Tritt sieht man, wie das Wasser mit elementarer Kraft, langsam, doch stetig, die geologische Umgestaltung dieses Theiles der Erde bewirkt. Ueberall rieselt es hervor und zernagt, unterminiert, zersetzt das schiefrig-kalkige Gestein bis zu den höchsten Bergkuppen hinauf, und das Product dieser Arbeit ist, dass zuerst die Humusschichte und die in ihr wurzelnden Bäume, dann aber das erweichte Gestein uud die in dasselbe gebetteten einzelnen härteren Felsenmassen abrutschen und in das Thal stürzen, welches von rothen, gewaschenen Felsenblöcken und weißem Geröll angefüllt ist. Alles ist in fortwährender allmählicher Bewegung, welche noch beschleunigter und gefährlicher wird, wenn der Südwind im Frühjahr die meterhohen Schneemassen schmilzt und Bäche und Lawinen zu Thale stürzen. Im Thalgrunde die heimtückische Fella, die bei Regenzeit zum reißenden Strom wird und verheerend haust; an den Vergabhängen lockeres, unsicheres Terrain - da blieb nichts anderes übrig, als für die Bahn künstlich eine solide Straße su schaffen, unerreichbar für die Gier der Fella, möglichst geschützt vor den Wirkungen der abrutschenden Steinmassen. Die ganze 13 Kilometer lange Strecke von Pontebba nach Chiusaforte ist sozusagen ein einziger Viaduct, der oft in schwindelnder Höhe dahinfährt, in kühuen Bogen über Schluchten uud Seitenthäler setz und dessen Pfeiler tief in der Erde wurzeln, wo sich ein festerer Stützpunkt bietet. Und wo sich die Berge dräuend zusammendrängen oder große Strecken Rutschterrain jeden Bau unmöglich machen, da sucht die Bahn im Innern der Berge Schutz oder flüchtet sich über imposante Eisenbrücken auf das andere Ufer der Fella. Zwölf Tunnels und drei Brücken über die Fella unterbrechen die auf Viaducten ruhende Bahnstraße, die in starkem Fall fortwährend abwärts führt.
Um die Bahn gegen das Drängen und Schieben des z erbröckelnden Gesteins und Gerölls zu sichern, sind sowohl unterhalb als auch oberhalb des Bahnkörpers die Bergbahnen mit starken Steinplatten gepanzert, durch deren schiesschartenartige Oeffnungen das zerstörende Wasser Abfluss findet. Es ist ein gigantischer Bau, und aus dem Steinquadern, die hier durch Menschenhände aneinander gefügt wurden, könnte man eine Hauptstadt erbauen. Was ist eine Pharaonische Pyramide gegen diese Leistung? Die Bahn, über die seit zehn Jahren unzählige Züge dahinbrausen, ohne dass, meines Wissens, ein nennenswerter Unfall passiert wäre, muss wohl sicher sein. Und doch beschleicht einen das Gefühl des Bangens und Zweifels, wenn man dieses Werk der Menschenhände betrachtet. Ist es denn möglich, das feindliche wollen der Natur su controlieren, die gefahrbrohenden Veränderungen su erforschen, die seit zehn Jahren in der Höhe und Tiefe dieses lebendigen Bodens vor sich gegangen sind? Muss man beim Anblick der jäh, oft bis zu tausend Meter emporsteigenden zerklüfteten, überhängenden Festenberge nicht jeden Augenblick gewärtig sein, unter herabstürzenden Steinmassen begraben zu werden? Manche Felsenblöcke scheinen zwischen Himmel und Erde zu schweben, lose in Gerölle steckend, bereit zum vernichtenden Sprung in die Tiefe. Wahrlich, man hat weniger Verantwortung und Sorgen, Bismarck zu sein, als Bahnwächter auf dieser Strecke, und Dante’s:”Lasciate ogni speranza o voi ch’entrate” geht einem nicht aus dem Sinn! Sei es zu Wagen oder zu Bahn, man athmet erleichtert auf, wenn man dieses Höllenthal passiert hat, und doch gibt es auch hier menschliche Niederlassungen, Gehöfte und Ortschaften, deren Bewohner im ewigen Kampf mit den Elementen ein elendes Dasein fristen. Da liegt Dogna, die erste Station nach Pontebba, ein kleines düfteres Dorf, auf einer in das Bett der Fella hineinragenden Landzunge erbaut, preisgegeben den Ueberschwemmungen des Flusses. Das enge Thal bietet keinen anderen Plaß, und so entstand dort nothgedrungen eine Anfliedlung; die MEnschen kämpfen lieber gegen das Wasser, als gegen die dunkten Mächte der Berge. Wie grausig dieser Kampf ist, beweist deutlich eine Häusergruppe unterhalb Dogna, deren einen Theil eine Felsenkoloss zerschmetterte, während die Gebäude durch die große Ueberschwemmung der Fella im Jahre 1885 in Ruinen verwandelt wurden. Geborstene Mauern, halbe Dächer, nur Spuren von Fenstern und Thüren, und doch bewohnt von einigen armseligen Menschen, die sich von ihrer Heimat, ihrer geringen Habe nicht trennen konnten. O armes italienisches Volk, wo findet man noch solches Elend, als in deinem gepriesenen Lande! Immer am rechten Ufer der Fella bleibend, erreichten wir gegen 5 Uhr Chiusaforte, wo sich das Fellathal zu einer natürlichen Thalsperre verengt, woher auch der Name Chiusaforle entstand. Das eigentliche Dorf, in der Manier wie alle italienischen Dörfer gebaut, befindet sich am linken Fella-Ufer, unweit der Mündung des Raccolana-Thales, das sich hier gegen die österreichische Grenze hin öffnet. Der moderne Theil der Ortschaft etablierte sich jedoch knapp unter dem Bahnhofe am rechten Fella-Ufer und besteht aus Gasthäusern und mehreren Kasernen, denn, wie es scheint, liegt hier eine ziemlich starke Garnison von Alpenjägern , die jedoch in ihren - vielleicht von den Anstrengungen des Dienstes - etwas defect gewordenen Sommer-Uniformen keinen sehr günstigen Eindruck machen.
Der Centralpunkt Chiusaforte's ist das Hotel der Brüder Pesamosca, welches mit seinen knapp über der Fella gelegenen Gartenterrassen und seinem Badehaus nicht nur von dern Officieren den Garnison stark frequentiert wird, sondern auch Sommerfrischler aus Udine, besonderes Damen, beherbergt. Während ich mich an den unbermeidlichen Producten italienischer Kochfunft - Risotto und Kalbscoteletten, beides von dazugekochten Paradiesäpfeln in rosigem Glanze ergühend - ergößte unddazu warmes Bier una saureren Wein trank, versammelte sich im Glassalon eine größere Gesellschaft, um das Diner zur officielen Speisestunde um 6 Uhr einzunehmen. Es waren größtentheils Signore mit großen schwarzen Augen, hohen Frisuren und noch höheren Tournüren, die mit südländischer Lebhaftigkeit die einzelnen Schüsseln des Diners begrüßten und sich auch in den Zwischenpausen eine Menge Dinge zu erzählen hatten.
Dazu rauschte die am Fuße der Terrasse dahineilende Fella, plätscherte der Springbrunnen, lärmten die ihre Gäste bedienenden Fratelli Pesamosca, und nur der im Schutze der nach Süden gelegenen Terrassenmauer grünende Feigenbaum - es ist vielleicht der nördlichste Vorposten italienischer Vegetation - träumte still von dem glücklicheren Lose seiner Brüder in der sonnigen Ebene. Besser als er scheinen sich hier die immergrünen Evonymussträuche acclimatisiert zu haben, von denen das neben dem Bahnhof befindliche Gärtchen wunderschöne Exemplare aufweist, trotzdem hier Frost nnd Schnee im Winter ganz nordisch hausen.
Langsam steige ich zum Bahnhof empor; da bemerke ich einen kleinen Jungen mit einem großen Korb voll prachtvoller Edelweißblüten. Es sind Exemplare mit enormen milchweißen, oft doppelten und dreifachen Blütensternen, ganz frisch gepflückt auf den höchsten Graten des Montasio und Canin. “Quanto costa?” frage ich den Kleinen. “Un franc,Sior!” Und mit einem wundervollen Strauß dieser herrlichsten Alpenblumen, dem sinnigsten Ricordo aus den italienichen Alpen, besteige ich den Zug zur Rückfahrt. Umwillkürlich schließe ich die Augen, wenn wir an schwindelnden Abgründen vorüberbrausen, und zahle die Secunden, bis wir aus dem finsteren Schoß der Erde wieder ans Tageslicht gelangen; doch zum Glücke erwies sich alles niet- und nagelfest, und bald war die österreichische Grenze erreicht. Addio bella Italia! so gesegnet deine Ebenen sind, so großartig deine Alpen.
K. N-c., Laibacher Zeitung, 3. September 1887.
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