Dieser italienische Ort ist eines der häufigsten Ausflugsziele von Tarvis aus und eine Wanderung dahin gehört zu den genussreichsten im Fellathale. Um die Schönheiten des immer enger werdenden Valle del Ferro mit seinen wunderbaren Bahnbauten voll geniessen zu könnem ist es geboten, von Tarvis aus die Bahn nur bis Pontafel oder Pontebba zu benutzen und sodann entweder zu Fusse (2 ½ Std.) oder zu Wagen (1 Std.) thalabwärts zu ziehen. Die gutgehaltene Strasse gestattet ein rasches Fortkommen und die Romantik des stillen Thales wird jedermann fesseln. Bald nach dem Verlassen Pontebbas erblicken wir rechts den ersten Tunnel der Ferrovia Alta Italia, mit welchem eine Reihe so grossartiger und wunderbarer Bauten beginnt, dass der Wanderer des Sehens nicht müde wird. Nicht weniger als 12 Tunnels entfallen auf die kurze Strecke zwischen Pontebba und Chiusa; dazwischen setzt die Bahn auf zierlichen Eisenbrücken und Durchlässen über steile, zerklüftete Seitengräben, zieht auf mächtigen Quadermauern dahin, überfliegt in schwindelnder Höhe auf dem Ponte di Muro die tosende Fella, wendet sich in vielfachen Kurven auf kunstreichen Viadukten über Fella und Geröll, überschreitet auf einer 172 m langen , an Steinpfeilern ruhenden Brücke den Torrente di Dogna und das Dörfchen Prerit di Sotto, schlängelt ihr Schienenband in gleicher Weise wie vorher durch Tunnels, an Felswänden und Mauern entlang, um abermals das Hauptthal mit Fluss und Strasse auf einer 146 m langen Gitterbrücke zu überqueren und in Chiusaforte einzumünden. Abwechselnd mit der Bewunderung dieses Meisterwerkes moderner Baukunst wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem landschaftlichen Bilde und den wie Spielzeug verstreuten, oft von unwegsamer Höhe herabsehenden Ansiedlungen der armen Thalbewohner zu. Immer längs der schäumenden Fella mit prächtigen Uferschutzbauten zieht die Strasse an dem Kirchlein S. Rocco vorbei, von schroffen Felsen und trümmergefüllten Wildbachgräben besäumt. Ungefähr ¾ Std. von Pontebba gewahren wir jenseits der Fella einen tief eingeschnittenen, von kahlem Gestein umstellten Graben und an dessen Ausgang das Maurerdörfchen, Pietratagliata, durch den Grabenbach in zwei Häusergruppen geteilt. Dicht an der Strasse, vom Dorfe durch die Fella getrennt, steht ein einsames Wirtshäuschen, ,,Osteria al Giardino“ benannt, das so unscheinbar es ist, sich regen Besuches erfreut, denn die Padrona schenkt einen guten Tropfen. Bei weiterem Fortschreiten erblicken wir schon von fern die einzig schöne, zum Thale schief gestellte Brücke von Ponte di Muro! Je zwei Riesenpfeiler in Quadernbau, durch je eine Wölbung verbunden, tragen in ihrer Mitte eine 72 m lange Eisenkonstruktion, welche das Flussbett in einer Höhe von 41 m graziös überspannt. Die Gesamtausdehnung der Brücke von einer Thalseite zur anderen beträgt 144 m. Wir durchschreiten nun den die Strasse überwölbenden Bogen und gelangen in weiteren ¾ Std. nach Dogna. (Bahnstation über der Fella). Hier ist das Thal so eingeengt, dass der vorspringende Fels durchbohrt werden musste, um der Strasse Raum zu schaffen. Nachdem wir den ziemlich langen Tunnel durchmessen, begrüssen wir die ersten Häuser des Ortes. Gegenüber am linken Ufer der Fella liegt das Dörfchen Prerit di Sotto, darüber dehnt sich die lange Eisenbahnbrücke und im Hintergrund öffnet sich der Dognagraben (Canale di Dogna), überragt von dem gewaltigen Jôf del Montasio. Nach Süden erscheint das Thal durch die kulissenartig gegeneinander geschobenen Berge völlig geschlossen.Der Rest des Weges weckt das Interesse des Geologen sowie des Botanikers. Bis zur Strasse herab reichen die Faltungen und Schichten des Gesteins und manch ein seltenes Pflänzchen lugt aus den Felsspalten hervor. Chiusaforte ist ein netter Ort mit Postamt und bildet mit den anschliessenden Dörfern Campolaro und Casasola eine stattliche Häuserreihe langs der Hauptstrasse. Befriedigt über das Gesehene wird der Tourist gewiss gern dem Bedürfnis nach physischer Stärkung Rechnung tragen, daher nicht an Albergo Pesamosca oder Martina vorübergehen, ohne dem italienischen Weine und der landesüblichen Küche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wer ein wenig Umschau halten will, wird nicht verabsäumen, dem am jenseitigen Ufer der Fella, am Ausgang des Raccolanathals (s. Gebirge und Hochthäler, sowie Uebergänge) gelegenen Dorfe Raccolana seinen Besuch ahzustatten. Man unterlasse jedoch nicht, etwas kleine Münze einzustecken, denn zahlreiche Hände strecken sich dem Fremden entgegen mit dem Rufe: Un soldo, Signore!
Johan Siegel, Markt-Tarvis in Ober-Kärnten, dessen Umgebung und das Kanalthal, 1903
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